Alte Kühe braucht das Land.

Die These, daß »früher alles besser war« wird mit gleichermaßem großem Zorn sowohl vertreten als auch zurückgewiesen. Hier soll die Streitfrage an einem Gegenstand erörtert werden, den die meisten Leute nur noch aus Bilderbüchern und von Schokoladenverpackungen kennen: der Kuh. Nach der ersten Quelle hat sie notorisch Grashalm und Gänseblümchen im Maul, nach der zweiten ist sie lila. Die Frage, welche dieser beiden Illustrationen die Wirklichkeit am besten trifft, läßt sich bei einem Gang durch Feld und Au nicht mehr entscheiden, denn Kühe sieht man dort nicht mehr, statt ihrer nur noch Silomais. Wer in einen Stall guckt, stellt fest: Sie haben keine Gänseblümchen im Maul, sind aber auch nicht lila.
Sind sie tatsächlich noch rotbunt, dann heißen sie Red-Holstein oder »Holstein-Frisian«; der Name deutet an, daß ihre Ahnen mal auf holsteinisch-meerumschlungenen Weiden grasten, dann aber amerikanischen Züchtern anheimfielen, die sie auf 10.000 Liter Leistung tunten und ihnen dabei ein puritanisches Gepräge gaben.
Bei der Frage, ob früher alles besser war, könnte man zunächst einmal ganz wagemutig den Standpunkt der Kuh einnehmen: Als Hochleistungskuh« ist sie heute ganzjährig in einem klimatisierten Stall vor Wetter, Wind und Sonnenbrand geborgen und wird aufs schönste von Robotern umsorgt, die ihr Futter ad libitum vorlegen, ihr den Rücken bürsten und, wann immer sie es will, ihr mit großer Zärtlichkeit die Milch abmelken, die sie allerdings ganz springflutartig geben muß, um die Kosten ihres Komforts zu refinanzieren. Ihr Leben hat sich also dem des modernen Menschen in erstaunlichem Maße angeglichen. Was die Kuh davon hält, muß hier unentschieden bleiben.
Das servierte Futter hat es in sich; es wird mit seinen Eiweißbestandteilen aus aller Herren Länder herbeigeschafft, und besteht ansonsten aus einem zu Sauerkraut vergorenem Gras, das Silage heißt. Alles zusammen ist in der Lage die Milchdrüsen der Kühe in einen Dauerlauf zu bringen, der ihnen jährlich bis zu 10.000 Liter Milch entspringen läßt. Das reichte für die Ernährung von 40 Kälbern in einem Jahr und entsprechend abgehärmt sieht die Red-Holstein-Kuh auch aus: sehr groß, sehr hager, sehr eingefallen, sehr mürrisch – also so, wie der verblichene Archetyp der »Alten Tante«, die ihr Leben in Gram und Hader über nicht begangene Sünden fristet. Das ist ihr puritanisches Gepräge.
Nach dem 2. Weltkrieg überquerten die Red-Holsteins den Atlantik abermals, diesmal nach Osten und verdrängten auf den angestammten holsteinischen Weidegründen ihre kleineren, stämmigeren und lebenslustigen Vorfahren, die sogenannten »Altrotbunten«, mit dem Versprechen, das Holsteinische Hügelland mit Milchseen zu fluten. Die autochtonen Rotbunten hätten die Bildfläche verlassen, wenn sie sich nicht in der Obhut Dithmarscher Bauern befunden hätten, die seit altersher allen anbrandenden Übeln (wie feudalherrschaftlichen Abgabepflichten, der Demokratie und eben auch dem Reimport überzüchteten Milchviehs) ihr »Bliww mi wech domit« entgegenschleudern.

Von dort also konnte ich mir als spätberufener Landwirt eine kleine Herde der »Alten Rotbunten« zulegen und betrachte sie, die als reine Weidegänger marschfähig über ausgedehnte Gründe streifen, regelmäßig mit großer Freude. Sie klagen nie über Fuß- und Gelenkbeschwerden, bedürfen keiner Klauenpflege, betrachten den Tierarzt mit mildem Spott, sind muskulös und stämmig und geben immerhin die Hälfte der Milchmenge ihrer Tuningschwestern ohne dafür mehr zu verlangen als das, was ihnen schon immer zukam: Gras und Heu und ein windgeschützter Unterstand. Und die Refinanzierung von Robotern und Klimatechnik liegt ihnen sicherlich nicht auf der Seele.
Die Frage, ob früher alles besser war, ist manchmal kompliziert, etwa bei der Energieversorgung, die früher zumindest insofern »besser« war, als sie sich rein aus erneuerbaren Quellen speiste, was heute bekanntlich nicht mehr der Fall ist, aber demnächst wieder so sein soll – allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, daß Windkraft und Solarpaneele in Zukunft nicht mehr nur Korn- und Walkmühlen und Gesenkhämmer antreiben und versorgen sollen, sondern über den Umweg der Elektrizität auch alle Förderbänder, Melkroboter und Fütterungsautomaten und zusätzlich noch die gesamte Industrie, die Haushalte und 40 Millionen Elektroautos.
Für den Fall, daß das nicht aufgeht, lohnt es sich daran zu erinnern: Es gibt Dinge, die auch ohne jede kapital- und energieintensive Intervention funktionieren. Die Gewinnung von Milch und Fleisch zum Beispiel. Nur dazu gilt: Alte Kühe braucht das Land.